(aus: Huber, Nikolaus: Sagen vom Untersberg, Salzburg 1901, Nr. 66 / über sagen.at)
Im Jahre 1529 stand Lazarus Gitschner beim Stadtschreiber zu Reichenhall, 3 Stunden von Salzburg, in Diensten. Dieser beredete einst seinen Herrn und den Stadtpfarrer Martin Elbenberger, dazu noch einen Bürger von Reichenhall, mit ihm den Wunderberg zu besteigen.
Als der Tag gekommen war, den sie miteinander bestimmt hatten, wagten sie sich in Gottes Namen fort. Sie kamen zu einer Klamm, der hohe Thron genannt. Allda war eine Schrift mit silbernen Buchstaben in einen Stein gehauen, welche sie lange anschauten und lasen, ohne deren Sinn und Inhalt enträtseln zu können. Nachdem sie noch weiter auf dem Berge herumgestiegen waren, gingen sie wieder nach Hause.
Daselbst angekommen, besprachen sie miteinander das Gesehene, und der Herr Pfarrer befahl dem Lazarus Gitschner, er solle den Berg noch einmal besteigen und die Schrift auf dem Papier zurückbringen. Lazarus bestieg gleich am andern Tage – dies war am letzten unsrer sieben Frauen Tag im Herbst – den Berg und schrieb die Buchstaben genau und deutlich ab, wie sie hier folgen:
S. V. R. G. E. T. S. A. T. V. M. *
Bei dieser Arbeit war es Abend geworden, und da er ohnehin nicht mehr nach Hause gehen konnte, so blieb er bei dieser Klamm über Nacht. Dies geschah an einem Mittwoch.
Am Donnerstag frühmorgens, als er erwachte und um sich umzusehen, ein wenig aufwärts ging, sah er plötzlich einen barfüßigen Mönch vor sich stehen, der in einem Buche las und einen Bund Schlüssel auf den Schultern trug.
Dieser Mönch sprach zu Lazarus: »Wo bist du gewesen und wo gehst du hin? Bist etwa hungrig?«
Da dachte letzterer: Jetzt werde ich Gold bekommen und ein reicher Mann werden, darum erzählte er dem Mönche mit aller Vertraulichkeit seine Meinung und seinen Willen.
Da sagte der Mönch zu Lazarus: »Gehe mit mir, es wird dir und deinen Nebenmenschen gut geschehen. Ich werde dir auch zu essen und zu trinken sattsam geben und dir zeigen, was die eingehauenen Buchstaben in dieser Klamm zu bedeuten haben.«
Sie gingen hierauf von dem Orte, wo sie geredet hatten, wieder zum hohen Thron, wo der Mönch eine eiserne Pforte öffnete und den Lazarus durch ein Tor führte, wo eine steinerne Bank war.
»Hier«, sagte der Mönch, »auf diese Bank lege deinen Hut, denn an eben diesem Ort wirst du wieder herauskommen. Solange du drinnen bist, sprich zu niemandem ein Wort, es mag einer zu dir sagen und dich fragen, was er nur immer will; mit mir aber kannst du reden, was dir beliebt und recht ist, aber merke dir alles wohl, was du sehen und hören wirst.«
Nach diesen Worten schritten beide durch das Tor. Da sah Lazarus einen großen Turm mit einer Uhr, die mit Gold verziert war. Der Mönch sagte: »Siehe, auf welcher Stunde der Zeiger steht.« Und es war 7 Uhr. Sie gingen weiter, und Lazarus sah ein schönes, prächtiges Gebäude mit zwei Glockentürmen, einem Kloster ähnlich. Es stand auf einer schönen, grünen, weiten Wiese, die mit schattigen Obstbäumen voll der vornehmsten Früchte geziert war und von silberreinen Bächlein durchschlängelt wurde, deren eines mit zwei messingnen Röhren zum Gebäude in einen großen marmornen Granter geleitet war.
In diesem Gebäude führte ihn der Mönch in einen prachtvollen Tempel, welcher so groß war, daß Lazarus beim Eingange kaum den Hochaltar sehen konnte, vor welchem beide dann beim hochwürdigsten Gut in größter Andacht beteten. Nach dem Gebete führte ihn der Mönch in einen Kirchenstuhl und sagte: »Lazarus! Bleibe da, bis ich wiederkomme und dich hinwegführe. Betrachte dir alles; diese Kirche hat mehr als zweihundert Altäre und über dreißig Orgeln, ohne die zahlreichen anderen Musikinstrumente.«
Also blieb Lazarus an dieser Stelle, und es kamen alsbald über eine große breite Stiege in seiner Nähe herab alte und junge Mönche, nahe an dreihundert Paare, alle in hölzernen Schuhen. Sie schauten ihn im Vorübergehen scharf an und gingen vor zum Hochaltar, wo sie mit größtem Eifer ihr Chorgebet hielten, wie es in der Domkirche zu Salzburg gewöhnlich ist. Darnach wurde mit allen Glocken zum Gottesdienste geläutet, und diese hatten einen so schönen und lieblichen Ton, wie Lazarus solchen noch nie in seinem Leben gehört hatte.
Nun sah er große Scharen Volkes mit schönen, doch nicht übertrieben geputzten Kleidern in die Kirche wallen. Hierauf fingen die Mönche an, an allen Altären Messen zu lesen und am Hochaltare das Hochamt zu halten, und sämtliche Orgeln mit allen übrigen Musikinstrumenten ertönten laut und prächtig, so daß es dem Lazarus nicht anders dünkte, als wäre er leibhaftig im Himmel.
Als nun der Gottesdienst vollendet war, ging alles Volk wieder aus der Kirche, und auch die Mönche verließen den Chor und gingen die Stiege hinauf, von wo sie gekommen waren. Über eine Weile kam der Mönch wiederum zum Lazarus und sprach zu ihm: »Jetzt bleibe noch da, man will zum Essen gehen.«
Nach zwölf Uhr führte der Mönch den Lazarus über die mehrerwähnte Stiege, die nicht weniger als achtzig aus Marmor schön und regelmäßig gearbeitete Stufen hatte, in ein großes, zu beiden Seiten mit hohen Fenstern versehenes Vorhaus, von welchem er auf die große weite Wiese hinabsah, auf welcher das Gebäude stand. Mitten durch dieses Vorhaus führte ihn der Mönch ins Refektorium, welches oben gewölbt und mit Fenstergi-tern wohl verwahrt war. Daselbst standen lange prächtige Tafeln.
Zunächst der Türe setzte der Mönch den Lazarus an einen gedeckten Tisch und sagte: »Lazarus, jetzt bleibe da, ich will dir zu essen und zu trinken geben.« Doch während er um das Essen ging, blickte Lazarus zum Fenster hinab und sah ganze Scharen des Volkes über die große Wiese von einem Wald zum ändern hin- und hergehen. Unterdessen kam der Mönch mit dem Essen daher, welches aus Fleisch, Kraut, Gerste, einem Laib Brot und einem Becher guten Weines bestand, wie man traktiert wird in dem uralten Stift und Kloster St. Peter in Salzburg. Das Speise- und Trinkgeschirr war wohl geputzt und von feinstem Zinn.
Hernach befahl er ihm, Gott für das Essen zu danken und führte ihn alsdann wieder in die Kirche zur Vesper und aus ihr zurück durch das »Mneß« oder Vorhaus in das Refektorium, von welchem er und der Mönch zum Fenster hinaus auf die schöne Wiese hinabsahen, wo wieder viele Leute freundlich und gemeinschaftlich hin- und hergingen.
Auf die Frage, wer diese Leute seien, gab der Mönch zur Antwort: »Diese Leute waren Kaiser, Könige, Fürsten, Bischöfe, Prälaten, Ritter, adelige und unadelige Herren und Frauen, Klosterleute, Knechte und Dienstmägde, Reiche und Arme, alles rechtliche Leute, welche für Erhaltung des christlichen Glaubens gestritten haben«; unter ihnen waren auch viele, welche Lazarus selbst noch gekannt hatte, wie Erzbischof Leonhard von Keut-schach zu Salzburg, Herzog Albrecht aus Bayern und seine Hausfrau, Prälaten von St. Peter und St. Zeno und noch viele andere, Reiche und Arme.
Noch fragte Gitschner: wer derjenige sei, der die goldene Krone auf dem Haupte und das Zepter in der Hand habe? Worauf der Mönch erwiderte: »Das ist unser getreuer Regent Kaiser Karl, der alle übrigen Kaiser und Könige hier unter sich hat, auf dem großen Walserfelde einst ist verzückt worden und jetzt hier erscheint, wie er in der Welt aussah.«
Der Kaiser trug einen langen grauen Bart, der ihm das goldene Bruststück an der Kleidung bedeckte und an Sonn- und Feiertagen in zwei Teile geteilt und mit einem aus kostbaren Perlen gemachten Bande eingebunden wurde. Er hatte ein scharfes, tiefsinniges Angesicht, war mit jedem ohne Unterschied sehr freundlich und ordnete alles mit großer Güte an.
Sein zahlreiches Militär konnte Lazarus, trotz allen Schauens, gar nicht beschreiben. Täglich zogen Krieger mit anderen Rüstungen und unter klingendem Spiele auf, und mehrere von ihnen soll man außerhalb des Berges schon gesehen haben, wenn ein großer Krieger unter den Potentaten im Anzüge war.
Wo aber der Kaiser, die vielen Menschen und Soldaten ihre Wohnung haben, konnte Gitschner nicht erforschen, da er außer dem Kloster kein anderes Gebäude sah. Auch der Mönch gab ihm hierüber keine Auskunft, sondern vielmehr eine Maulschelle, als er frag, was denn hierorts immerfort bis zu den letzten Zeiten der Welt zu tun sei, indem er sagte: »Das ist mir und dir nicht nötig zu wissen, denn es steht uns nicht zu, den Geheimnissen Gottes aberwitzig nachzuforschen. Es steht dir frei, herauszugehen oder zu bleiben.« Gitschner bat seines Vorwitzes wegen um Verzeihung und erklärte, bleiben zu wollen.
Zur Zeit des Chores kamen alle Mönche in schönster Ordnung und beteten und sangen aus Büchern, die aus bloßer Baumrinde verfertigt waren. Nach dem Chore machten alle noch freiwillige geistliche Betrachtungen. Dem Lazarus wurde es nachher erlaubt, in den Büchern zu lesen. Nach der Komplet gingen die Mönche in den hohen Turm, durch welchen Gitschner in den Berg gekommen war und den er wegen seiner Schönheit so sehr bewunderte. Es war eben wieder sieben Uhr, wie bei seiner Hierherkunft.
Der Mönch zeigte ihm da zu beiden Seiten zwölf geschlossene, mit Eisen beschlagene Türen und sagte: »Durch diese Türen geht man nach St. Bartholomä in Berchtesgaden, nach Salzburg in die herrliche Domkirche, nach Kirchenthal zur Muttergotteskirche, nach Feldkirchen, nach Gmain zur Gottesmutter, nach Seekirchen, nach Maxglan, St. Michael, St. Gilgen, St. Zeno, Mariaegg in Bayern und nach St. Peter und Paul.« Einst mußte Lazarus mit den Mönchen durch eine dieser Türen gehen. Sie stiegen über eine lange Treppe hinunter, und nachdem sie eine gute Zeit eben fortgegangen waren, sagte der Mönch: »Jetzt gehen wir tief unter einem See.«
Daraufkamen sie in eine Kirche, in welcher die Mönche mit größter Andacht Gottesdienst hielten, nach dessen Beendigung alle wieder in den Wunderberg zurückkehrten. In den folgenden Nächten wurden noch mehrere Gotteshäuser besucht, welchen Weg sie jedesmal in kurzer Zeit zurücklegten und dabei sie volle Tageshelle hatten, obgleich keine Sonne zu sehen war. Lazarus erfuhr dabei, daß die zuerst besuchte, ihm ganz unbekannt gewesene Kirche jene zu St. Gilgen sei.
Als er nun später aus dem Berge wieder heraus war, besuchte er eigens dieses Gotteshaus, um sich von der Wahrheit zu überzeugen. Er fand es wirklich so; nur konnte er nicht begreifen, wie sie durch das Kirchenpflaster auf-und abwärts gekommen sein möchten.
Zum Schlafen hatten die Mönche wenig Zeit, waren aber doch stets munter, wachsam, fröhlich und hielten fest an einer schönen Tagesordnung. Lazarus war sechs Tage bei ihnen, hatte selbst nicht den geringsten Mangel an Essen und Trinken, sah auch die Mönche Speisen und Trank, aber äußerst wenig, zu sich nehmen, konnte indes während dieser Zeit nicht wirklich entnehmen, ob diese Wunderbergsbewohner Geister seien oder nicht, worüber schon so viel gestritten worden ist.
Endlich führte der Mönch den Lazarus wieder zu dem Tor, durch welches er hereingekommen war und wo er seinen Hut niedergelegt hatte, und sagte zu ihm: »Jetzt ist es Zeit, daß du wieder nach Hause zurückkehrst«; er hieß ihn dann ein wenig warten, um ihm zur Wegzehrung noch zwei Laiblein Brot zu holen.
Als der Mönch mit dem Brote zurückkehrte, blieb er noch eine Weile bei Lazarus stehen und sagte zu ihm: »Mein Lazarus! Du hast jetzt bei uns gar wunderliche Dinge gesehen, die du dir wohl merken und pünktlich aufschreiben sollst.«
Alsdann segnete er ihn, ermahnte ihn, gottesfürchtig und treu zu leben, und verbot ihm schließlich, von dem, was er im Wunderberge gesehen und gehört hatte, vor Ablauf von 35 Jahren jemandem etwas zu sagen. Lazarus Gitschner ging darauf voller Erstaunen und Verwunderung über das Gesehene und Gehörte geradewegs nach Hause. Der Herr Stadtpfarrer und der Stadtschreiber stellten ihn zwar wegen seiner langen Abwesenheit und wegen seiner Niedergeschlagenheit und Tiefsinnigkeit zur Rede, er übergab ihnen aber nur die Abschrift der in der Klamm gefundenen Inschrift und war im übrigen durch ganze 35 Jahre still und verschwiegen.
Bald nach Ablauf dieser Zeit nahte sich ihm im 65. Lebensjahr sein Ende, vor welchem er das hier Erzählte offenherzig, bei gutem Verstande und in Gegenwart seines Beichtvaters berichtete.
Gitschner hinterließ einen ehelichen Sohn Johann (einen zu Bergheim bei Salzburg ansässigen Bauern), der später jedem gern mitteilte, was sein Vater im Untersberge gesehen hatte.
*) Surget satum: aufgehen wird, was gesäet worden.
- Surget: https://www.navigium.de/latein-woerterbuch/surget
- Satum: https://www.navigium.de/latein-woerterbuch/Satum
(Quelle: Huber, Nikolaus: Sagen vom Untersberg, Salzburg 1901, Nr. 66 / über sagen.at)